Ein geschenktes Bild – eine Werkbetrachtung

Holger Zimmermann: ohne Titel (2017); Tusche auf Papier; 20 x 30 cm
Mein erster Eindruck war eine gewisse Enttäuschung, ein so karges und reduziertes Bild geschenkt zu bekommen. Hätte ruhig etwas Sinnenfreudigeres sein können, das man sich gerne im Wohnzimmer aufhängt. So dagegen findet es seinen Platz vor meinem Fenster, wo es irgendwie hingehört und ich wusste zunächst nicht mal warum.
Zu sehen ist doch eine ganze Menge, z.B. ein Teil eines Fensterrahmens oder Bilderrahmens, darunter eine Art Fensterbrett oder vielleicht nur eine längere Rahmenleiste, was aber nur angedeutet ist und eine Art verwackelte x-Achse und Y-Achse, jeweils mit angedeuteten Wellenlinien, die parallel laufen, die untere kennt zwar ihr Ziel (der weitere Verlauf ist angedeutet), bricht aber auf halber Strecke ab. Dort wo die beiden Achsen ein Kreuz bilden, also ganz links, finden sich Striche und Punkte, die an ein Gesicht erinnern: „Punkt, Punkt Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht!“ Auch die Achsen sind, wie das Gesicht, unfertig, angedeutet und unvollendet, genau wie der „Fensterrahmen“ – sie wirken wie Zitate oder Collageelemente, bzw. der „Bilderrahmen“ (oder das Bild eines Bilderrahmens?), dessen rechte und untere Hälfte fehlen, wobei dieses „Manko“ durch Linien und die stärkere Einschwärzung der „Fensterbank“ bzw. der plastischen Fläche unten fast wieder ausgeglichen wird, so wie überhaupt eine gewisse instabile Balance aller Elemente gerade durch ihre Unfertigkeit erreicht wird, indem sie sich immer auf alle anderen Elemente beziehen können.
Immer wieder gibt es Variationen bzw. Zweierbeziehungen, zwei sich ergänzende unterschiedliche Fensterrahmenteile, zwei Linien in der x-Achse, zwei sich spiegelnde Linien in der y-Achse. Auch das dreidimensionale „Festbrett“ (sorry: „Fensterbrett“) hat links eine helle Seite, rechts eine dunklere und gegenständlichere.
Natürlich drängen sich Deutungen auf, z.B. ist im „Fensterbrett“ noch eine kleine „Straße“ aus zwei parallelen Linien dargestellt, die sich links unter dem „Tiefpunkt“ der oberen, geschwungenen/gewellten parallelen Linien befindet, kurz danach geht die obere Linie ihren „Weg“ nicht mehr gemeinsam mit der unteren, obwohl das so „geplant“ war oder ist , wie die feine Linie darunter andeutet.
Interessant ist, dass hier das in der Kunstgeschichte häufig wiederkehrende Motiv des „Fensters“ auftaucht. Mir drängen sich Parallelen auf zu einer Siegener Ausstellung im letzten Jahr mit Arbeiten des amerikanischen abstrakten Malers Cy Twombly auf. Dieser hatte sich Jahrzehnte mit dem Fenstermotiv beschäftigt und wie Holger Zimmermann vieles in Andeutungen belassen.
Doch das Fenstermotiv wird bei Holger Zimmermann ironisch verkehrt, denn der Bilderrahmen, der ein Bild einrahmt ist hier hinter (!) die Striche gewandert, wird also zum Hintergrund, was dem Bild einen gewissen Witz verleiht. Wir schauen nicht durch ein Fenster, sondern in das Bild eines Rahmens bzw. in das Zitat eines Fensterrahmens. Durch die Unfertigkeit der Linien, hat das Bild eine gewisse innere Bewegung, so als würde man erwarten können, dass es sich eines Morgens als noch immer weiter gezeichnet herausstellen könnte.
Das Motiv eines „Weges“ oder einer „Straße“ taucht insgesamt vier Mal in Variationen auf, in der vierten Variation sogar noch mit einer Kurve, so dass man auf den Gedanken kommen könnte, dass das „Fensterbrett“ oder die „Basis“ (der harte Kern) über „Umwege in der Straße“ sogar noch nach vorne immer weiter wachsen könnte, so wie ja auch die vorzeitig beendete untere Linie der beiden zentralen Linien, die Aktienkurse, Lebenslinien oder Fieberkurven oder Koordinaten auf der y-Achse assoziieren lassen, noch „Potential“ haben, nicht „fertig“ wirken.
Wenn man durch den Vordergrund, dann durch den Fenster-Rahmen und dann durch das Papier des Werkes „hindurch schaut“ und das Bild gegen das Licht hält, sieht man, dass auf der Rückseite des Blattes ein fettes schwarzes angedeutetes Ausrufezeichen (!) in dynamischer Schräglage erscheint, das Zufall oder Unfall oder Absicht sein mag, aber offenbar nicht entfernt wurde und insofern der ambivalenten Deutung in vielen Richtungen offen ist; es gehört zum Bild, ist aber nur erkennbar, wenn man durch das Bild „hindurchschaut“!
Beauty is in the eye of the beholder, sagten schon konstruktivistisch denkende Engländer vor Jahrhunderten.
„Wie hältst Du es mit dem Fenster?“ Diese Frage stellt sich Cy Twombly (siehe oben) seit 1957 und genau das ist das Geburtsjahr des Betrachters, der diese Bildbetrachung verfasst hat.
Vielen Dank für ein kleines Fenster in die Kunst.
Dr. Klaus Zöllner, Siegen, 20.1.22